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Gemeinsam stark für jedes Kind – Impulse vom Fachtag der Vereinigung für interdisziplinäre Frühförderung 2025

Heilpädagogische Familienhilfe (HPFH) & Inklusions-/​Steuerungsfachkräfte in Kitas. Ein Rückblick zum Fachtag »Frühförderung und Kita – Inklusion braucht beide«

Kerstin Mieth beim Fachtag "Frühförderung und Kita – Inklusion braucht beide«
Kerstin Mieth beim Fachtag "Frühförderung und Kita – Inklusion braucht beide«

Am 18. Juni 2025 wurde in Erfurt im Auditorium der Helios Klinik diskutiert, wie Frühförderung und Kita-Praxis ineinandergreifen können. Vier Kurz-Impulse gaben den Takt vor: Tobias Thiel zeigte, wo Kitas ohne zusätzliche Steuerungsressourcen an Grenzen stoßen; Kerstin Mieth (Leiterin unserer QuerWege-Frühförderstelle) illustrierte das heilpädagogische Potenzial der Eins-zu-Eins-Förderung; Dr. Michaela Menth ordnete das Ganze wissenschaftlich aus Fachkräftesicht ein; Silke Schellbach stellte »Unterstützerkreise« als gelebte Eltern-Netzwerke vor. Quintessenz aller Vorträge: Erst das Zusammenspiel aus punktueller Frühförderung, alltagsverankerter Kita-Begleitung und systemischer Familienarbeit schafft nachhaltige Teilhabe.

Warum wir jetzt handeln müssen

  • 100 154 Kinder erhalten aktuell während der Betreuungszeit Eingliederungshilfe in Kitas – so viele wie nie zuvor. destatis.de

  • Jedes achte Kind (≈ 12 %) hat laut aktueller Krankenkassenanalyse eine Sprachentwicklungsstörung; das sind bundesweit über 255 000 Betroffene. br.de

  • 22 % der 7– bis 17–Jährigen berichten noch immer von psychischen Auffälligkeiten (COPSY-Studie, Herbst 2024). uke.de

  • 2,1 Mio. Minderjährige (14 %) wachsen 2023 in Armutsgefährdung auf. destatis.de

Diese Kennzahlen standen auch beim Fachtag im Raum: Sie unterstreichen, dass Kitas und Frühförderung ihre Kräfte bündeln müssen, um Kinder ganzheitlich zu begleiten. Um diesen Herausforderungen aus fachlicher Perspektive gewachsen zu sein, lassen sich die folgenden zwei Konzepte in die Überlegungen einbeziehen:

Heilpädagogische Familienhilfe und was sie aus unserer Perspektive leisten kann

Heilpädagogische Familienhilfe (HPFH) ist eine ambulante Unterstützungsform, bei der ein multiprofessionelles Team (z. B. Heil- und Sozialpädagog*innen, Therapeut*innen, Psycholog*innen) nicht nur das Kind, sondern die gesamte Familie begleitet, wenn ein Kind wegen einer (drohenden) Behinderung oder Entwicklungsgefährdung besondere Förderung braucht. Im Unterschied zur »klassischen« Sozialpädagogischen Familienhilfe konzentriert sich HPFH deshalb stärker auf Entwicklungs- und Teilhabeziele des Kindes, arbeitet konsequent mit heilpädagogischen Methoden (etwa ICF-basierte Förderplanung, Spiel- und Wahrnehmungstherapie) und bezieht therapeutische Leistungen unmittelbar ein – statt sie extern anzudocken. Wird HPFH in eine Frühförderung eingebettet, entsteht ein durchgehender Weg: Die Familie erhält frühzeitig gebündelte Diagnostik, Förderung und Eltern-Coaching aus einer Hand; Jugend- und Eingliederungshilfe stimmen sich in einem gemeinsamen Teilhabeplan ab. So entfallen doppelte Termine, Fachkräfte können Fortschritte direkt im Alltag verankern, und Eltern fühlen sich nicht mehr »zu vielen Stellen geschickt«, sondern erleben eine partnerschaftliche Begleitung, die zugleich Entwicklungschancen des Kindes und die Stabilität des familiären Systems stärkt.

Warum Kitas eine eigene Inklusions-/​Steuerungsfachkraft brauchen

Eine Inklusions-Steuerungsfachkraft ist eine zusätzliche, vom Gruppendienst freigestellte Expert*in, die – unabhängig vom gesetzlichen Fachkraft-Kind-Schlüssel – in der Kita alle Prozesse rund um Vielfalt und Teilhabe koordiniert. Programme wie »Vielfalt vor Ort begegnen« (Thüringen) oder »Kitas S-Plus« (Stuttgart) zeigen: Eine fest angestellte, nicht in den Personalschlüssel eingerechnete Fachkraft

  • coacht das Team zu Barriereabbau,
  • organisiert Eltern-Beratung und Fallkonferenzen,
  • vernetzt Kita, Frühförderung und Eingliederungshilfe.

In Thüringen finanzieren Landesmittel bereits 100 Stellen in 80 Kitas; die S-Plus-Evaluation meldet > 80 % Elternzufriedenheit und verbessertes Teamklima. bildung.thueringen.de stuttgart.de

Hand in Hand: Fachtags-Thesen in der Praxis

Hand in Hand_Tabelle der Fachtagsthesen aus der Praxis
Hand in Hand_Tabelle der Fachtagsthesen aus der Praxis

Diese Punkte decken sich mit den Ergebnissen des Fachtags – besonders Kerstin Mieth betonte, dass Verwaltungspraxis noch zu oft »entweder–oder« statt »sowohl–als-auch« entscheidet.

Was wir in Jena bereits leben

  • In unserer Kita Schwabenhaus arbeitet seit 2023 eine Kita-Sozialarbeiterin als Steuerungsfachkraft – finanziert über »Vielfalt vor Ort begegnen«.
  • Unsere Frühförderstelle begleitet aktuell rund 100 Kinder pro Jahr; Kinder und Eltern profitieren aktuell ohne Wartezeit von heilpädagogischer Förderung, Beratung und, sofern vom Jugendamt beauftragt, auch entsprechender Diagnostik.

Nächste Schritte – aus Fachtag und wissenschaftlichen Betrachtungen abgeleitet

  1. Konzeptionell prüfen, ob wir HPFH bei QuerWege aufbauen: Z.B. durch Anerkennungsantrag nach § 31 SGB VIII und einem geplanten Start mit 10 Familien in enger Zusammenarbeit mit dem Fachdienst Jugend der Stadt Jena | 2026.
  2. Landesprogramm fortschreiben: Thüringen sollte die »Vielfalt vor Ort«-Finanzierung dauerhaft verstetigen.
  3. Kommunale Richtlinie Jena 2025: Gleichzeitige Bewilligung von EGH in Kita und Frühförderung bei komplexen Fällen (Pilot 12 Monate).
  4. Wirkungs-Monitoring: Gemeinsame Indikatoren (Sprachstand, PSI, Teilhabescores) über Kita + HPFH hinweg auswerten – auch um künftige Debatten um »Kosten vs. Bedarf« zu versachlichen.
  5. Fachkräfte sichern: Konzeptionelle Überlegungen starten, wie wir in Zukunft zum Schwerpunkt Inklusionspädagogik ausbilden wollen.

Fazit

Der Fachtag hat bestätigt, was die Zahlen zeigen: Komplexe Bedarfe brauchen komplexe, aber abgestimmte Lösungen. Sobald Frühförderung, Kita-Steuerungsfachkraft und HPFH wirklich Hand in Hand gehen, sinken Brüche im Hilfeverlauf, Eltern fühlen sich entlastet und Kinder erfahren nachhaltige Teilhabe.

Unser Appell: Lasst uns die Erkenntnisse aus Forschung und Praxis jetzt nutzen – für mehr Ressourcen, weniger Bürokratie und ein solidarisches Miteinander, damit jedes Kind in Jena die Unterstützung erhält, die es verdient.

Mitwirkende beim Fachtag "Frühförderung und Kita – Inklusion braucht beide"
Mitwirkende beim Fachtag "Frühförderung und Kita – Inklusion braucht beide"

Autor: Marvin David – Geschäftsführender Vorstand des QuerWege e.V.

veröffentlicht am 25. Juni 2025